Kurzschrift-Theorie


Kleine Einführung in die Kurzschrifttheorie

1. Funktionsprinzipien in deutschen kursiven Kurzschriftsystemen

Die Gretchenfrage der Kurzschrifttheorie lautet: Wie werden die Selbstlaute behandelt? Dazu gibt es nämlich zwei grundverschiedene Techniken:

  1. Die Selbstlaute werden in den umgebenden Mitlauten angedeutet oder symbolisiert.
  2. Die Selbstlaute werden buchstäblich geschrieben. Sie erhalten also eigene Zeichen.

Die für die deutsche Kurzschriftgeschichte - und heute in der Deutschen Einheitskurzschrift (DEK) praktizierte - wichtigere Gruppe ist die erste: Angedeutet werden kann der Selbstlaut z. B. im nachfolgenden Mitlaut (dem sog. Auslaut), und zwar indem dieser relativ zum vorhergehenden verschoben wird:

Die Andeutungsmittel heißen Verbindungsweite, Hoch-, Tief- und Nebenstellung sowie Verstärkung. Das ist die sog. Auslautvokalisation. Sie wurde erstmals konsequent von Karl Faulmann 1875/83 vorgeführt, erlangte aber erst mit den Systemen von Ferdinand Schrey (1887) und Stolze-Schrey (1897) praktische Bedeutung. Im System Gabelsberger ist die Auslautsymbolik die häufigste Art der Selbstlautandeutung. Da die beiden letztgenannten Systeme bei Schaffung der Deutschen Einheitskurzschrift einen Marktanteil von etwa 50 % (Gabelsberger) und 33 % (Stolze-Schrey) hatten, überrascht es nicht, dass auch die Deutsche Einheitskurzschrift (DEK) den Selbstlaut durch relative Verschiebung des Auslauts andeutet.

Eine Andeutung im Anlaut - also dem vorhergehenden Mitlaut - hat 1841 Wilhelm Stolze zur Grundlage seiner Kurzschrift gemacht. Er stellt den ganzen Wortstamm auf, über oder unter die Zeile.

Das Verfahren ist also nur in einer Silbe anwendbar, was natürlich ein gewisses Handicap darstellt. (Das Verfahren hat sich aber für die Redeschrift der DEK als sehr fruchtbar erwiesen.) Dieses Problem löste August Lehmann in seiner erstmals 1875 veröffentlichten sog. Stenotachygraphie, indem er alle Mitlaute gleich groß machte, sodass durch den Grad der Vergrößerung der Selbstlaut bezeichnet werden kann.

Systeme der zweiten Gruppe heißen vokalschreibend. Sie ordnen meist den Mitlauten die Abstriche und den Selbstlauten die Aufstriche zu. Im einfachsten Falle beginnt das zweite Zeichen dort, wo das erste aufhört:

Das hier vorgeführte Prinzip hat Karl Scheithauer 1898 erstmals realisiert. Es führt zu einer sehr einfachen, allerdings nicht besonders deutlichen Stenografie. Andere vokalschreibende Systeme stammen von Leopold Arends (1850), Heinrich Roller (1875) und den Gebrüdern von Kunowski (1898). Das zuletzt genannte System ist unter dem Namen Nationalstenographie bekannt geworden.

Charakteristikum dieses Systems sind die Aufstrich-Mitlaute und Abstrich-Selbstlaute. Darüber hinaus enden alle Zeichen gerade; man spricht vom Stabprinzip, das auch die o. g. Systeme Arends und Roller zeigen.

2. Ausländische kursive Kurzschriftsysteme

Für die mitlautreichen slawischen und viele germanische Sprachen erwies sich der durch Gabelsberger zum Durchbruch gelangte kursive Schriftstil als sehr geeignet. Dies ist auf den größeren Zeichenvorrat der kursiven Kurzschriften zurückzuführen. Das im bayerischen und österreichischen Raum dominierende System Gabelsberger wurde zunächst auch zum Ausgangspunkt der ersten Kurzschriften der anderen Sprachen der Donaumonarchie. Dabei erlangten zunächst die Tschechisch- und die Ungarisch-Übertragung große Bedeutung, später auch die Übertragungen für Polnisch, Bulgarisch und Serbokroatisch.

Hier erscheint eine wichtige begriffliche Definition angebracht: Eine Übertragung eines Kurzschriftsystems auf eine andere Sprache versucht das System den Gegebenheiten der Zielsprache weitestgehend gerecht zu werden, indem vor allem die Häufigkeiten der Laute und ihrer Kombinationen berücksichtigt werden. Eine Beibehaltung möglichst vieler Zeichen aus dem Muttersystem ist daher nicht erforderlich.

Eine Anpassung hingegen behält Zeichen und Verbindungsregeln so weit wie möglich bei, um ein und dem selben Stenografen das Stenografieren in zwei verschiedenen Sprachen zu ermöglichen. Die leichtere Erlernbarkeit wird daher mit einer reduzierten Leistungsfähigkeit erkauft.

Die sehr vielgestaltige Vokalisation des Systems Gabelsberger wirkte sich für die slawischen Sprachen nicht allzu störend aus, da sie über nur wenige Selbstlaute verfügen. Für das Tschechische wurde die Gabelsberger-Übertragung 1919 durch das System Herout-Mikulik verdrängt, in Ungarn setzte sich das System Radnai durch. Beide Systeme, die untereinander nicht verwandt sind, verwenden hauptsächlich einstufige Mitlautzeichen. Sie nutzen die Vergrößerung zur Darstellung von Mitlautfolgen (Herout-Mikulik) bzw. zur Selbstlautandeutung (teilweise bei Radnai) und zeigen eine vielfältige und unregelmäßige Art der Vokalisation.

Ebenfalls kursive Systeme dominieren in Russland, Skandinavien, der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz und Benelux. In Italien konkurriert die Gabelsberger-Übertragung von Noe mit geometrischen Systemen.

Das Niederländische System Groote (1899), das Schwedische von Melin (1892) und das Russische von Sokolov (1927) sind vokalschreibend wie die deutschen Kurzschriften von Scheithauer (s. o.). In Norwegen wird eine DEK-Übertragung geschrieben, die dem Muttersystem allerdings stark folgt. In der Ostschweiz wird nach Stolze-Schrey stenografiert.

3. Geometrische Systeme

Diese Systeme werden im angelsächsischen Raum, Frankreich, iberischen Halbinsel, Rumänien sowie teilweise Italien geschrieben. Dabei gibt es einerseits punktierende Systeme, die die Mitlaute aneinanderschreiben und die Selbstlaute nachträglich durch Punkte (manchmal auch Striche oder Haken) neben den Mitlauten anbringen. Diese Methode der englischen Systeme Byrom (1720), Taylor (1786) und Pitman (1837) wurde auch auf das Französische übertragen (Prevost-Delaunay, 1826/67). Für die vokalreicheren romanischen Sprachen wurde allerdings bald die Selbstlautschreibung praktiziert: 1803 für das Spanische (Marti), 1822 (Aimé Paris) und 1867 (Duployé) für das Französische, 1916 Meschini für das Italienische. Das System Duployé wurde von Stahl auf das sehr vokal- und diphtongreiche Rumänisch angepasst.